Melanie Wildt
Neukölln blüht auf
Aktualisiert: 8. Mai
Gerade endet der 5. Tag in der Holsteinischen Schweiz. Ich bin hier hergezogen, aufs Dorf. Vorhin beim Spazierengehen war der absolut einzige Müll, den ich gefunden habe, eine Dose Krombacher. Die war nicht mal zerdrückt. So weit sich der See vor meiner Terrasse und die Rapsfelder entlang der Landstraße erstrecken, umso enger fühlt es sich hier an, mit den Menschen zu leben. Ist das schlecht? Naja, wenn die Leute nett sind, dann ja eigentlich nicht. Wie nett ist nett genug? Wie intolerant bin ich durch die Großstadt und das Reisen durch die ganze Welt eigentlich geworden, dass ich es als spießig verurteile, dass die Leute ihre leeren Pfanddosen nicht zerdrücken?
Juli Zeh, ich persönlich finde sie eher unsympathisch, hat ein Buch geschrieben namens “Über Menschen”. Es gleicht meiner aktuellen Situation auf erschreckende Weise: Die Protagonistin ist Werbetexterin, selbstverständlich und selbsterklärt nur für nachhaltigen Kapitalismus, war sogar auf der gleichen Schule wie ich (creepy), hat Beziehung und Großstadthustle hinter sich gelassen und sich aufs Land verpisst. Sie nach Brandenburg, ich nach Schleswig-Holstein. Während Tabea (so heißt sie nicht, aber mir fällt der Name gerade nicht ein) sich mit der Akzeptanz der Ambivalenz der Dinge, zum Beispiel Nazimenschen, abkämpft, wird mein Nemesis, glaube ich, der Anstand. Menschen, die unzerdrückte Krombacherdosen in die Landschaft werfen und Leute, die man erst duzen darf, wenn der oder die Ältere es anbietet.
Denn, und ich kann nicht anders als zu glauben, dass der/ die Dosenwerfer*in sich das so überlegt hat, ich kann die Dose, die ich selbstverständlich mitgenommen habe, jetzt mit deutlich erhöhter Convenience in den Pfandautomaten tun. Ordentlich, anständig, mitgedacht.
Nachdem ich vor dem Dosenfund im Hofladen 3€ in die Vertrauenskasse für selbstgemachtes Bärlauchsalz geschmissen habe und danach selbstverständlich gutmenschenmäßig die intakte Dose mitgenommen habe, frage ich mich: Bin ich vielleicht schon an Tag 5 den ersten Schritt gegangen in eine Welt aus Untersetzern auf Glastischen und Saufspielolympiaden für die ganze Familie? Werde ich auch so? Wird das für mich okay? Normal? Eine weitere horizonterweiternde Erfahrung auf meinem Weg zu der weisen Person, die ich gerne irgendwann mal wäre – oder die brutale Erkenntnis, dass man das Dorf zwar mal für eine Weile verlassen kann, aber das Dorf einen selbst nie ganz verlässt?
Ich habe eben, wieder zu Hause, einen kleinen Beutel mit Blumensamen in meiner Manteltasche gefunden, auf dem steht: Neukölln blüht auf. Gegeben hat ihn mir eine freundliche Frau bei den Kieztagen vom BSR am Richardplatz: sozusagen ein Sperrmüllfestival, damit die Bewohner Berlins durch den billigen Trick der Eventisierung von der Vermüllung des öffentlichen Raumes abgehalten werden. Nachdem ein älterer Herr ihr die Tüte vor reaktionärer Altersempörung beinahe aus der Hand geschlagen hätte, ich sie aber dankend annahm, sagte sie zu mir: „Danke, dass Du dabei hilfst, Neukölln schöner zu machen.“
Jetzt sind Samenbeutel und ich hier am Dieksee in Ostholstein, Neukölln sieht immer noch scheiße aus und hier liegt dafür selbst der Müll anständig am Strassenrand rum. Ich werde morgen die Krombacherdose in den Pfandautomaten packen und mich darüber freuen, dass er die Dose direkt als die Seinige anerkennt und dann die Blumensamen in das (nicht von mir) preußisch gepflegte Beet meines Gartens streuen – wie es sich für ein kleinbürgerliches Riotgirl gehört.